Phänomenologie der Epilepsie 2/2

Walter, Monday, 09.12.2024, 11:27 (vor 44 Tagen)

Gesellschaftliche Wahrnehmung der Epilepsie

Die gesellschaftliche Ächtung von Epilepsie ist ein typisch deutsches Problem. In den USA wird zwischen Menschen mit „Heart Attacks“ (Herzinfarkten) und „Epileptic Attacks“ (epileptischen Anfällen) kein Unterschied gemacht – beide Gruppen genießen dasselbe gesellschaftliche Ansehen. In Deutschland hingegen existiert eine tief verwurzelte Stigmatisierung, die auf historischen und kulturellen Vorurteilen basiert.

Prähistorische Perspektive: Epilepsie als „Heilige Krankheit“

In prähistorischer Zeit waren Menschen, die an Epilepsie litten, oft ausgegrenzt oder sogar aus ihren Gruppen verstoßen, da sie als Belastung für das Überleben angesehen wurden. Dennoch gelang es einigen, nach einem Anfall wieder zur Gruppe zurückzufinden. Da sie zuvor den Eindruck erweckt hatten, schwerkrank oder sterbend zu sein, sahen die anderen Mitglieder der Gruppe in ihrer Rückkehr ein Zeichen göttlichen Schutzes.

Diese Menschen wurden als von den Göttern geliebt betrachtet und oft als Mittler zwischen den Göttern und den Menschen angesehen. Auf diese Weise entstand möglicherweise das Schamanentum, und epileptische Anfälle galten als göttliche Botschaften. Der Begriff „Heilige Krankheit“ (griechisch: Morbus sacer) verweist auf diese Vorstellung und zeigt, wie sich die Wahrnehmung von Epilepsie im Laufe der Menschheitsgeschichte verändert hat.

Epilepsie im Nationalsozialismus

Während des Nationalsozialismus wurden Menschen mit Epilepsie als „lebensunwertes Leben“ klassifiziert und in Konzentrationslagern ermordet. Viele Familien versteckten ihre epilepsiekranken Angehörigen aus Angst vor Verfolgung. Dieses dunkle Kapitel hinterließ ein schweres Erbe: Auch heute wird in Deutschland noch selten offen über Epilepsie gesprochen.

Die erhöhte Suizidrate unter Epilepsiepatienten ist ein trauriges Zeugnis für den gesellschaftlichen Umgang mit der Erkrankung. Viele Betroffene fühlen sich isoliert und ausgegrenzt, was die psychische Belastung zusätzlich verstärkt.

Aus der Aussetzung in prähistorischer Zeit ist über die Ausrottung während des Nationalsozialismus die heutige Ausgrenzung von Anfallkranken geworden. Für einige Anfallskranke bedeutet Ausgrenzung, der Entzug von Gemeinschaft und Integration in Gesellschaft und Familie leider immer noch ein Todesurteil. Der letztendliche Schritt wird in die Hand des Betroffenen gelegt.

Philosophische Reflexion

Ein Philosophieprofessor, der von meiner Erkrankung wusste, schrieb mir einmal in einem Brief:
„Ihre Erkrankung gibt Ihnen die Möglichkeit, die allgemeine Daseinssituation des Menschen radikaler durchschauen zu können, als es der üblichen Lebenswelt möglich
ist.“

Dieser Gedanke zeigt, dass Epilepsie nicht nur eine körperliche, sondern auch eine existenzielle Dimension hat. Sie zwingt den Betroffenen, sich intensiver mit Fragen der menschlichen Zerbrechlichkeit, der Sterblichkeit und des Lebenssinns auseinanderzusetzen – Aspekte, die oft im Alltag verdrängt werden.

Die Phänomenologie der Epilepsie eröffnet neue Perspektiven auf das Leben mit der Erkrankung. Sie zeigt nicht nur die Herausforderungen, sondern auch die spirituelle und existenzielle Tiefe, die mit Epilepsie verbunden sein kann. Ein offener gesellschaftlicher Umgang und ein besseres Verständnis könnten helfen, Vorurteile abzubauen und Betroffenen ein erfüllteres Leben zu ermöglichen.

Unsere Situation, die wir miteinander teilen, sollte Anlaß dazu sein, dass wir näher zusammenrücken, miteinander Umgang pflegen, Freundschaften schließen. Das sind alles Aspekte eines Miteinanders, die in der heutigen Gesellschaft selbst bei nicht von Epilepsie Betroffenen selten geworden sind. Unsere Erkrankung sollte genügend Anlaß dazu sein, aufeinander zuzugehen.


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